Warum Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre absolut lesenswert ist

Endlich ein neuer Roman vom Pop-Literaten

Vor kurzer Zeit, am 19. April 2023, erschien der neueste Roman Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre, der bereits im Vorfeld für großes Interesse und wilde Medienspekulationen gesorgt hatte. Grund dafür war die Ankündigung, das Buch handle von einem Medienkonzern, in dem die Bereitschaft junger Frauen zu Sex mit ihren Vorgesetzten Einfluss auf deren Karriereentwicklung hat.

Dieser Medienkonzern, das müsse doch der Springer-Verlag sein, mutmaßte man vor der Veröffentlichung. Schließlich war Stuckrad-Barre lange mit dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns, Mathias Döpfner, befreundet und selbst für den Verlag tätig. Außerdem war er im Jahr 2021 Auslöser für den Rücktritt des Chefredakteurs des Axel-Springer-Verlags, Julian Reichelt. Durch seine Aussage, Reichelt würde junge Mitarbeiterinnen zum Sex nötigen und dabei seine Position als Vorgesetzter missbrauchen, brachte einen Stein ins Rollen, der letztlich zur Trennung des Konzerns von Reichelt führte.

Lässt frau sich auf den Chefredakteur ein, kann das karrierefördernd sein

Und tatsächlich: Wie sich schnell herausstellt, handelt Noch wach? von einem Ich-Erzähler, von Beruf Schriftsteller, der mit dem CEO eines großen deutschen Medienhauses befreundet ist. Ebenfalls mit von der Partie ist ein namenloser Chefredakteur, der den TV-Sender des Konzerns leitet – und dabei regelmäßig mit Frauen schläft, die ihm unterstellt und beruflich von ihm abhängig sind. Jung-Redakteurinnen, Volontärinnen, Praktikantinnen, Auszubildende – und sie alle haben gemein, dass sie die Karriereleiter nach oben klettern, wenn sie sich auf den Chefredakteur einlassen.

Dabei geht dieser äußerst geschickt vor: Während er die Betroffenen zuerst umwirbt und ihnen damit das Gefühl gibt, die Einzige für ihn zu sein, lässt er sie wie heiße Kartoffeln fallen, sobald er ihrer überdrüssig ist – und hinterlässt dabei nicht nur beschädigte Karrieren, sondern mitunter auch gebrochene Herzen.

Deutschlands Me-too-Skandal: Compliance-Prozess im Medienhaus

Der Ich-Erzähler erfährt von den Machenschaften, nachdem ihm Sophia, eine, die selbst betroffen ist, eine SMS vom Chefredakteur zeigt. Sie beginnt mit den Worten Noch wach? und ist damit titelgebend. Anschließend folgt: „Scheiß Klimaanlage komm und wärm mich. Körper an Körper. JETZT“

Angestoßen vom Weinstein-Skandal, der just in diesem Moment publik wird, beschließt Sophia, gegen den Chefredakteur vorzugehen, und wird dabei vom Ich-Erzähler unterstützt. Gemeinsam sammeln sie Aussagen von betroffenen Frauen. Und da kommt schnell einiges zusammen. Genug, dass es für einen internen Compliance-Prozess im Medienhaus reicht. Das ernüchternde Ergebnis: Alles deute darauf hin, dass der Sex zwischen den Frauen und dem Vorgesetzten einvernehmlich stattgefunden habe, es liege also keine Verfehlung des Chefredakteurs vor. Ein Ergebnis, das den Lesenden fassungslos, empört, wütend zurücklässt.

Ist die Kritik gerechtfertigt?

Dennoch steht der Roman aus einem ganz anderen Grund in der Kritik. Es sei von Stuckrad-Barres persönliche Abrechnung mit Döpfner. Es fehle an Irritation, schließlich sei es kein Geheimnis, dass es bei Propaganda-Medien auch mal schmutzig zugehe. Das Buch sei aufgeblasen und biete höchstens Stoff für 250, nicht aber knapp 400 Seiten.

Was dabei vergessen wird, sind die Schicksale der jungen Frauen im Roman. Ja, auch wenn Stuckrad-Barre sowohl im Vorwort von Noch wach? als auch in Interviews immer wieder betont, der Roman sei teilweise von realen Ereignissen inspiriert, jedoch überwiegend Fiktion, sind die Ähnlichkeiten zu Döpfner, Reichelt und ihm selbst zu frappierend, um ihm das abzunehmen.

Aber: Dass das, was jungen Frauen in Noch wach? widerfährt, auf realen Tatsachen beruht – nicht nur im Springer-Konzern, sondern auf der ganzen Welt – macht das Thema nur umso brisanter.

Machtpositionen wurden ausgenutzt

Vorgesetzte auf der ganzen Welt becircen ihre ihnen unterstellte Mitarbeiterinnen, um sie ins Bett zu locken. Männer in Machtpositionen nutzen ihre Stellung schamlos aus, um ihre Triebe zu befriedigen. Betroffene Frauen durchleben ein Wechselbad der Gefühle: Wut, weil sie benutzt wurden. Scham, weil sie dem Süßholzraspeln ihrer Vorgesetzten Glauben geschenkt haben. Sorge, weil sie vor Konsequenzen am Arbeitsplatz fürchten.

Und das im 21. Jahrhundert, in dem Gleichberechtigung von Männern und Frauen gefordert wird – und dennoch Geschlechterklischees nach wie vor gelebt werden.

Noch wach? ist deshalb so viel mehr als nur eine Abrechnung mit dem Springer-Konzern, und es wird dem Roman nicht gerecht, wenn er darauf reduziert wird. Wer im Buch schockierende Enthüllungen sucht, wird enttäuscht werden, alle schmutzigen Details wurden wohl schon von Journalisten im Jahr 2021 ans Licht gezerrt.

Wo fängt Machtmissbrauch an?

Stattdessen stellt sich die Frage, wo Machtmissbrauch beginnt und wie man dagegen vorgehen kann. Welche Rolle man einnehmen möchte, sollte, vielleicht auch muss, wenn man Mitwisser von Missständen wird. In was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Vorschläge oder mögliche Lösungen bietet Benjamin von Stuckrad-Barre dabei nicht, was die Lesenden dazu zwingt, sich ihre ganz eigenen Gedanken darüber zu machen – und sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Fazit: Noch wach? ist ein brandaktueller, absolut lesenswerter Roman, dem die eigentlich geschickte Werbekampagne – der Andeutung einer Verarbeitung des Reichelt-Falls – nun ein bisschen auf die Füße fällt, weil er häufig ausschließlich darauf reduziert wird. Nichtsdestotrotz verdient das eigentliche Thema des Buches die Aufmerksamkeit, die ihm Stuckrad-Barre gewidmet hat.

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